Die Sonnenorgel
der Stadtpfarrkirche St. Peter und Paul in Görlitz

 

Die evangelisch lutherische Pfarrkirche St. Peter und Paul in Görlitz erhebt sich auf einem Felsen über dem Ufer der Neiße, dem heutigen Grenzfluss zu Polen. Sie wurde zu Beginn des 13. Jahrhunderts gegründet und erhielt in den Jahren 1423 bis 1497 die bis heute erhaltene spätgotische Gestalt einer fünfschiffigen Hallenkirche, die mit 72 m Länge, 39 m Breite und 24 m Höhe sowie einem Raumvolumen von mehr als 40.000 m3 zu den bedeutendsten mittelalterlichen Bauwerken der Stadt zählt.

Bei einem Brand wurde die Kirche 1691 sehr schwer beschädigt und nach ihrer Wiederherstellung mit neuem Inventar ausgestattet. Krönender Abschluss dieser Arbeiten war die Aufstellung einer neuen Orgel, die Eugenio Casparini zusammen mit seinem Sohn nach sechsjähriger Bauzeit 1703 vollendete. Die am 5. Juli 1703 von Orgelbauer Johann Rätzel sowie dem Zittauer Organisten und Musikdirektor Johann Krieger abgenommene Casparini-Orgel wurde am 19. August 1703 festlich geweiht. Sie verfügte über 57 Register auf drei Manualen und Pedal und war damit die damals größte Orgel Schlesiens. Bemerkenswert ist, dass sie kein Rückpositiv mehr hatte, das in der Region Ende des 17. Jahrhunderts aus aufführungspraktischen Gründen immer seltener wurde.

Das sehr beeindruckende (14,40 m hohe und 10,30 m breite) Orgelgehäuse, das Werk des einheimischen Künstlers Johann Conrad Büchau, wurde wegen seiner außergewöhnlichen architektonischen Gestalt international bekannt. Büchau verteilte über den gesamten Prospekt siebzehn sog. Sonnen, die er um goldene Sonnengesichter strahlenförmig mit gleich langen, an der Rückseite jedoch verschieden tief ausgeschnittenen Pfeifen einer zwölffachen Pedalmixtur versah und damit dem Instrument den Namen Sonnenorgel gab. Jede Sonne erzeugte jeweils einen Ton der Pedalmixtur und war außerdem mit einem 8' -Trompetenregister kombiniert, dessen einzelne Pfeifen auf die siebzehn am Orgelgehäuse befindlichen Engelsfiguren verteilt wurden (die restlichen neun Töne der Mixtur und Trompete kamen auf einer eigenen Windlade im Inneren der Orgel zu stehen). Dieses einzigartige Register verfügte über eine eigene Traktur, die am Spieltisch als Sperrventil funktionierte. Im Gegensatz zu den beschriebenen Sonnen wurde die unter dem bekrönenden Giebel des Orgelprospekts befindliche sog. Schnecke als rein dekorativer, fantasievoll aus Zungenpfeifen gebildeter Zierrat gestaltet. In der »Ausführlichen Beschreibung« des Organisten Christian Ludwig Boxberg 1704 heisst es: «Endlich ist noch etwas von denen Engeln und Sonnen / (daher die Orgel auch von dem Autore die Sonnen=Orgel benennet worden/) welche / wie schon gemeldet / eine 12fache Mixtur durchs Pedal formiren / zu gedencken. Sie stehen auf keiner Wind=Lade / sondern haben zu beyden Theilen der Orgel einen Canal / und ihre eigene Abstracten. Anstatt des Registers ist nur ein Ventil, wenn es gezogen wird / so läßt es den Wind in die beyden Canale. [...] Und weil die Pfeiffen / wie schon oben gedacht / durch alle Sonnen einerley Grösse sind / so möchte sich mancher wundern / wie es eine Mixtur durchs Pedal seyn könne. Es dienet aber zur Nachricht / daß sie von hinten auff geschnitten sind / wodurch sie die verlangte Höhe und Tieffe erreichet. Was es aber vor mühsame Arbeit dem Herrn Casparini gegeben / kan ieder Verständiger leichtlich ermessen. Im ganzen Pedale, so starck es auch ist / wird kein Bass gefunden / der ein wildes Brüllen von sich hören liesse / ob er gleich starck ist / sondern sie sind bey ihrer grossen force dennoch angenehm intoniret.»

Von der Orgel Casparinis blieben bis heute neben dem Gehäuse mit der Sonnen-Mixtur nur 29 aus Zypressenholz gefertigte Pfeifen der Onda maris erhalten, um die sich, wie bei der Gabler' schen Vox humana in Weingarten, verschiedene Sagen ranken.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fanden verschiedenste mehr oder weniger umfangreiche Reparaturen der Casparini-Orgel statt, deren Konzeption bei diesen Arbeiten weitgehend erhalten blieb. 1894 soll es im historischen Gehäuse zu einem ersten Neubau der Sonnenorgel durch die Schweidnitzer Orgelbauanstalt Schlag und Söhne gekommen sein, doch konnten bisher keine entsprechenden Hinweise aufgefunden werden.

In den Jahren 1926 bis 1928 baute die Firma Sauer aus Frankfurt/Oder eine elektropneumatische Orgel (mit Taschenladen, einem freistehendem Spieltisch sowie 89 Registern auf vier Manualen und Pedal) in das Gehäuse Büchaus ein. St. Peter und Paul besaß mit diesem Instrument wieder das größte Orgelwerk Schlesiens, das jedoch schon nach einem halben Jahrhundert nur mehr bedingt spielbar war. Es wurde im Jahre 1979 vor Beginn der Außenrestaurierung der im Zweiten Weltkrieg in Mitleidenschaft gezogenen Peter- und Paulskirche (mit Ausnahme der Onda maris sowie des von nun an leerstehenden historischen Gehäuses mit seiner Sonnen-Mixtur) vollständig beseitigt.

Die Restaurierung des Orgelgehäuses erfolgte während der von 1980 bis 1992 stattfindenden Innenrestaurierung des Gotteshauses, während gleichzeitig die Planungen für einen Orgelneubau aufgenommen wurden. Die schwierige Aufgabe der Disposition eines Neubaus im historischen Gehäuse wurde 1993 von einer Expertenkommission gelöst: Man plante ein neues Instrument, das sich zum Einen mit 64 Registern auf Brustwerk, Hauptwerk, Oberwerk und Pedal an der originalen Sonnenorgel orientieren und damit der Musik von Johann Sebastian Bach bis hin zu Felix Mendelssohn-Bartholdy dienen, zum Anderen aber für die Musik von Max Reger bis zur Moderne auch ein hinter dem historischen Gehäuse gelegenes Schwellwerk mit 23 Registern aufweisen sollte.

1995 kam es zum Vertragsabschluss mit der renommierten Schweizer Orgelbaufirma Mathis aus Näfels im Kanton Glarus. Die Weihe der neuen Sonnenorgel mit 64 Registern auf drei Manualen und Pedal fand schließlich am 12. Oktober 1997 zur Fünfhundertjahrfeier von St. Peter und Paul sowie auf den Tag genau dreihundert Jahre nach der Vertragsunterzeichnung mit Casparini statt.

Die Sonnen wurden 2004 von Mathis Orgelbau restauriert, wobei auch die eingangs erwähnte ursprüngliche Kombination der Pedalmixtur mit einer „Trombet 8. Fuß” rekonstruiert wurde. Die Pfeifen der Trompete stehen heute allerdings auf einer eigenen Windlade hinter dem Prospekt im Inneren der Orgel, die somit 65 Register auf drei Manualen und Pedal enthielt.

Mit dem Einbau des Schwellwerks in einer Nische hinter dem Hauptwerk wurde die Sonnenorgel 2006 mit 88 Registern auf vier Manualen und Pedal vollendet. Im Festgottesdienst und Konzert am 24. und 25. Juni 2006 demonstrierten Matthias Eisenberg und Reinhard Seeliger den Klangreichtum der Orgel, die vom fast unhörbaren Pianissimo bis hin zum majestätischen Tutti weder in Dynamik noch Farbe Wünsche offen läßt. Der für die Kollaudierung zuständige Sachverständige Matthias Eisenberg kommentierte öffentlich, er würde an dieser Orgel beim besten Willen einfach nichts zum Meckern finden ...

© François Widmer (Auszug aus dem CD-Booklet) & Günter Lade

Disposition

 

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Fotos: © Rainer Kitte (6,8,25), Franz Schmidig (32,35,36,40), Lukas Landolt (12,19-24), Ruedi Hermann (5,27-28,30-31,34,37-39), Günter Lade (1-3,4,7,9-11,13-18,26,29,33).

 

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EL CD 045

EL CD 047